Gedruckt zu Ursel

Streiter für den rechten Glauben in Martin Luthers Nachfolge

Für die Einrichtung einer Druckerei in Oberursel spielte der Prediger Hartmann Beyer (1516 - 1577) eine entscheidende Rolle. Er stammte aus Frankfurt, hatte in Wittenberg Theologie und Mathematik studiert und war 1545 als Prediger in seine Vaterstadt berufen worden. Im Kampf gegen das Interim hatte er hartnäckig gegen den Rat der Stadt opponiert.

Das Interim war eine „Zwischenlösung“, die die offenen konfessionellen und kirchenpolitischen Fragen bis zur endgültigen Regelung durch ein Konzil festlegen sollte. Kaiser Karl V. hatte es 1548 als Reichsgesetz beschließen lassen. Besonders bei den überzeugten Nachfolgern Luthers erregte es heftigen Widerstand, weil sie nicht nur das Erbe Luthers gefährdet sahen, sondern auch dem Kaiser jegliche Kompetenz zur verbindlichen Entscheidung in Glaubensfragen absprachen. Hartmann Beyer gehörte zu denjenigen Theologen, die in der zweiten Generation der Reformatoren um die eindeutige lutherische Lehre, um ihre Darstellung und ihre Praxis im Leben der Gemeinden kämpften. „Gnesiolutheraner“ (d.h. echt) wurden sie genannt, oder nach ihrem bekanntesten Vertreter Matthias Flacius, die „Flacianer“.
Portrait Hartmann Beyer Hartmann Beyer (1516 - 1577), Theologe und Mathematiker in Frankfurt

In Frankfurt agierte unter Beyers Führung eine starke Gruppe dieser orthodoxen Lutheraner. Sie stimmten der von handelspolitischen Gründen her argumentierenden und kaiserfreundlichen Politik des Rates nicht zu. Als dann im Streit um das Abendmahlsverständnis das Vorhaben des Peter Braubach, eine polemische Schrift gegen Johannes Calvin zu drucken, zurückgewiesen wurde, organisierte Beyer die Umgehung des Verbotes durch die Einrichtung einer Druckerei in Ursel. Mit dem Grafen Ludwig von Stolberg-Königstein hatten sie eine streng lutherische Regierung, die genehmigte, was in Frankfurt verboten war.

Beyer kannte aus eigener Erfahrung das Städtchen am Taunusrand, die lutherische Gemeinde dort und die Pfarrer der Grafschaft, die lokalen Arbeitsbedingungen und die personalen Voraussetzungen. Mit Nicolaus Henricus, der aus Ursel stammte und sich in Frankfurt im Dienst von Peter Braubach als überzeugter Lutheraner und Drucker gezeigt hatte, gab es den erforderlichen Fachmann.

Von 1557 - 1598 kamen nach dem vorliegenden Verzeichnis 354 Drucke aus der Werkstatt des Henricus, davon sind 345 der lutherischen Theologie direkt oder indirekt zuzuordnen, das sind 97,5%. Damit hatte Ursel eine Druckerei, die ein ganz klares Profil dieser theologischen Richtung vorweisen konnte. Einzelheiten, welchen Feldern der Theologie die Drucke zuzuordnen sind, können der Rubrik „Sachbereiche“ im Verzeichnis entnommen werden.

Der Inhalt der Werke, von den kleinen Gelegenheitsschriften bis zu den großen Folianten mit Predigten, bestimmte das Programm des Henricus, erst in zweiter Linie der geschäftliche Erfolg. Während sich zur gleichen Zeit die Berufsbilder von Druckern und Verlegern voneinander abhoben, blieb Henricus einer der wenigen, der eigenständig mit Autoren verhandelt, über Auflagenhöhe und Finanzierung entscheidet und den Vertrieb regelt.


Über die Rolle, die Hartmann Beyer in der Buchhandelsstadt Frankfurt für die Bewegung der Gnesiolutheraner spielte, gibt ein Konvolut von 326 Briefen an ihn Auskunft, das in der Handschriftenabteilung der Universitätsbibliothek Frankfurt verwahrt wird. [Ms.Ff.H.Beyer A Nr.1-326, alle in lateinischer Sprache] Sie stammen von 63 Absendern, die vorwiegend die gleiche theologische Richtung vertreten. Allein von Matthias Flacius und Johannes Wigand stammen 72 dieser Briefe und in ihnen wird oft auch der „Vrseler Typographus“ erwähnt, oder einfach der „Vrseler“. Beyer tritt dabei weniger als Theologe, mehr als Agent für den Druck der Bücher in Erscheinung. Er begutachtet Manuskripte, vermittelt an Druckereien, sorgt für die Vertretung bei den Messen, die Einhaltung von Terminen, die Lieferung der meist 50 Freiexemplare „für Freunde“, mit denen ein Autorenhonorar abgegolten wurde, den Versand an Buchhändler. So ist auch Nicolaus Henricus in das weite Netzwerk des Publizierens eingebunden.

Der Theologe Johannes Wigand schreibt am 2.März 1559 aus Magdeburg: „Meine ‚Methoden‘ sind vor fast zwei Jahren in deutsch erschienen. Nun drängen mich viele gute Männer, sie auch lateinisch zu verfassen. Ich will das schon einmal bei Eurem Braubach anmelden. Mir ist es recht, wenn es in der Nachbarschaft gedruckt wird. Es wird gut zu verkaufen sein. Vielleicht kann es im Sommer gedruckt werden und im Herbst zur Messe herauskommen. 50 Exemplare erbitte ich für Freunde. Wenn jener (d.i. Braubach) nicht kann oder will, könnte man den Urseler bitten, es zu drucken.“ [Brief Nr.304] Das Buch erschien zur Herbstmesse 1559 bei Peter Braubach.
Portrait und Brief des Johannes Wigand Johannes Wigand (1523 - 1587), Theologe, mehrfach vertrieben, zuletzt Bischof von Samland
Brief von Wigand an Beyer vom 9. März 1565, auch den 'Vrsellano' betreffend. [Brief Nr. 112 r]

Am 9.März 1565 schickt Wigand aus Wismar seine Evangelien-Auslegung, die er im vergangenen Jahr geschrieben hat, an Beyer. Gute Freunde haben ihn dazu gedrängt. Er bittet nun Beyer, mit dem Urseler zu verhandeln, damit dieser sie im Verlauf des Jahres druckt. Er soll auch 50 Freiexemplare fordern und nicht mit sich handeln lassen. Es handelt sich um UD 69, in den folgenden Jahren um UD 73-74 und 80-81.

Außerdem will er, dass „De libero arbitrio“ (Vom freien Willen) wiederum vom Urseler gedruckt wird. Bereits 1562 hatte dieser die Erstauflage auf den Markt gebracht (UD 44). Bedingung ist, dass der Druck bis zum Bartholomäustag (14. August) fertiggestellt ist und Wigand Freiexemplare erhält. Der Autor zweifelt nicht, dass das Buch guten Absatz findet. "Wo Blendwerk ringsum die Oberhand gewinnt, wird dieses Werk der Kirche als Mahnung dienen." [Brief Nr. 312] Eine Wiederholungsauflage von UD 44 ist bisher nicht nachgewiesen. Henricus hat wohl die Absatzchancen als zu gering eingeschätzt.

Der Brief von Johannes Wigand, den er am 20. Juli 1567 an Beyer schreibt, stellt der Arbeit von Nicolaus Henricus kein gutes Zeugnis aus. Wigand hat wieder ein Manuskript beigefügt, das Beyer diesmal einem Drucker geben soll, der sorgfältig arbeitet. Dem Urseler soll er es keinesfalls geben. Er will ihn ja nicht kränken, und Beyer soll deshalb die Kritik für sich behalten, aber die Postillen (zuletzt UD 80 und 81) "sind so schlampig und fehlerhaft gedruckt, dass man sich beinahe dafür schämen muß“ [Brief Nr.317]. Beyer wird die Reklamation aber doch weiter gegeben haben, denn 1569 erscheint eine von Henricus selbst verbesserte Neuauflage.

Titelblatt UD089 Titelblatt mit Hinweis auf die sorgfältige Neuausgabe und 1. Seite mit Schmuckinitiale von UD 89

Der Kontakt von Matthias Flacius Illyricus , dem Wortführer der orthodoxen Lutheraner, zu Nicolaus Henricus in Ursel war von Anfang an gegeben, vermittelt durch Hartmann Beyer. Persönlich trafen sie sich wohl auch bei den Messen, die Flacius nachweislich 1555, 1561 und 1564-1566 besucht hat. Auch als Flacius kurz vor seinem Lebensende in Frankfurt Zuflucht im Weißfrauenkloster gefunden hat, war Ursel der einzige Ort, an dem noch die eine oder andere Schrift von ihm gedruckt werden konnte. In Frankfurt selbst war er nicht mehr gelitten. Auch sein letztes Gesuch auf Aufenthaltsgenehmigung wurde am 24. Februar 1575 abgelehnt: „Als Matthias Flacius Illiricus suppliciert vnnd gebetten mit Ime geduldt zu tragen vnnd noch lenger allhie bleiben und wonnen zu lassen. Soll mann Ime noch bis vff Prima Maij alhie zu bleiben zu vergönnern. Doch das er sich als dann von hinnen mache vnnd seinen pfennig anderswo zere.“[IfS. Ffm. Bürgermeisterbuch 1575] Am 11. März stirbt Flacius, 55 Jahre alt.

Matthias Flacius Illyricus / Frankfurt Matthias Flacius Illyricus (1520 - 1575), orthodox-lutherischer Theologe, wegen seiner radikalen Haltung mehrfach vertrieben.
Der Kontakt zwischen Flacius und Henricus bestand bis zu dessen Tod als Vertriebener im Frankfurter Weißfrauenkloster, 1575. Aus dem Belagerungsplan von K. Faber, 1552

Wie durch die gute Verbindung von Flacius nach Frankfurt, und dem nahen Ursel , die Verbreitung seiner Schriften gefördert wurde, zeigt UD 124: Am 5. September1572 wird in Mansfeld das für Flacius günstige Zeugnis einer Disputation unterzeichnet. In Ursel wird es in Eile auf 4 Blatt gedruckt und noch vor dem Ende der Messe in der zweiten Septemberwoche in Frankfurt verkauft.

Meist mahnt Flacius Termine der Fertigstellung an, die Zustellung der Freiexemplare, die Ergänzung bereits vorliegender Drucke in einer Neuauflage, die Qualität von Abdruck und Papier, die Lieferung von Exemplaren an Buchhändler, die Rücksendung von Manuskripten.

Brief des Flacius / Titelblatt UD 52 Der Brief des Flacius vom 3. Januar 1569, der auch Weisungen für den 'Vrseller' enthält, zeigt deutlich den Stress, dem der Autor ausgesetzt war. [Brief Nr. 169]
Titelblatt der Folioausgabe von UD 52, die 1563 Henricus für die Alten druckte

Freundlicher schreibt der Theologe Hermann Hamelmann in seinem Brief aus Gandersheim vom 3.3.1570: Beyer möge doch „unserm Nicolaus Henricus“ empfehlen, das „Corpus doctrinae de Eucharistia“ in der Folioausgabe (UD 52) wieder zu drucken. [Brief Nr. 110] Es war vor 7 Jahren erschienen, aber immer noch gefragt und auch ein Beispiel für die Zusammenarbeit von Beyer und Henricus. Im Vorwort der kleinformatigen Ausgabe von 1561 (UD 35) hatte Beyer geschrieben: „Derhalben habe ich Nicolaum Henricum gebeten/obgemelte Bücher vielen leuten/sonderlich den armen pastoren zu gut/ zu drucken/ welchs er denn zu tun mir zugesagt/vnd auch volnbracht. Daran er on zweiuel Gott vnd vielen fromen predigern ein angenemen dienst gethan.“ [)(iiij r] Zwei Jahre später (27.März 1563) schreibt Henricus zu einer großformatigen Ausgabe: „Hab ich der Kirchen Gottes hierinnen weiter dienen wöllen/vnd dieselbigen/sampt andern gleichs arguments Büchern/ wider auffgelegt zu trucken. Und da der vorige Truck zu einer gar kleinen schrifft/so nicht for die Alten ist/hab ich auch den Alten gedacht zu willfahren/vnd gemelte Bücher in der großen Form/mit einer gröbern Schrifft zu trucken.“ [UD 52, S. A2r]. Für Henricus war diese Zusammenstellung zentraler Texte Martin Luthers zu den Einsetzungsworten im Abendmahl ein großer Erfolg.

Wie bereits gesagt, war Nicolaus Henricus selbst ein überzeugter „Orthodoxer“, nicht nur ihr Gehilfe. Zwei weitere Argumente können dafür noch angeführt werden. Da ist sein Signet, das er seit 1558 mehrfach auf der letzten Seite dem Druckvermerk anfügt. Es zeigt auf einem Holzschnitt die Heilige Ursula, Patronin der Stadt Ursel, aber so anders, als in der herkömmlichen (katholischen) Darstellung mit der Märtyrerkrone, würdevoll, anbetungswert: Bei ihm steht Ursula auf freiem Feld vor den Mauern und Türmen der Stadt. Es stürmt heftig, das Gewand bläht sich, die Haare offen, den Pfeil streng nach oben gerichtet. Auch sein Signet hat eine Botschaft.

Heilige Ursula Die heilige Ursula in einer konservativ-würdevollen Darstellung von 1500 und im Signet des begeistert-lutherischen Henricus

Wer die Lebensbeschreibungen von Theologen liest, die als echte Lutheraner gelten, der wird bald eine Gemeinsamkeit entdecken: Sie gelten als eigensinnig, hartnäckig, widerspenstig, als hochmütig, stur, unbelehrbar und engstirnig. Für die meisten lagen hier auch die Gründe für ein unstetes Leben: Auf steter Suche nach Anstellung und Verdienst, und oft schon nach Wochen Streit und Kampf mit Landesherrn und Stadtregiment und erneute Vertreibung. Wenn nun im Protokoll der kaiserlichen Bücherkommission von der Herbstmesse 1579 bei „Ursell. Niclaß Heinrich, Drucker“ steht: „Ist ein tauber idiota“, so ist er klar dieser Gruppe der unbelehrbaren Glaubenseiferer zugeordnet. Von etwa 100 Druckern, die in dem Protokoll aufgeführt werden, ist er der einzige, bei dem eine Bemerkung zur Person angefügt ist. Dies ist das zweite Argument für seine Einstellung, die seine berufliche Praxis bestimmt. (Mehr dazu im nächsten Abschnitt „Zensur und Kontrolle“).


© 2024 - Manfred Kopp